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Le Sacre du Printemps – ein Mythos in der Geschichte des Tanzes bekommt durch Dewey Dell neues Leben eingehaucht
Veröffentlicht am 10.07.2023
- Interview
Archaische und ursprüngliche Energien, beschwörende und turbulente rituelle Tänze, uralte und schrille Klänge, die dem Unterbewusstsein einheizen. Dies alles und noch viel, viel mehr ist Le Sacre du Printemps – eines jener Meisterwerke, welche die Zeit überdauern und selbst im Gedächtnis von weniger erfahrenen Zuschauer*innen Bilder und Klänge voller Lebendigkeit und Staunen hervorrufen können. Als Frucht der Kreativität dreier Visionäre des 20. Jahrhunderts – Sergej Djagilev, dem Gründer der Ballets Russes, dem Choreographen Nijinsky und Igor Strawinsky für die Musik – stellte das Ballett zur Zeit seiner Entstehung (1913) ein revolutionäres Ereignis dar.
Auch heute noch gilt es als bahnbrechendes Werk, das seit mehr als einem Jahrhundert die Bühnen der Welt in Flammen setzt – auch dank der ebenfalls stets selbst faszinierenden Künstler*innen. Dazu gehören Persönlichkeiten wie Martha Graham, Mary Wigman, Maurice Bejart, Pina Bausch, Glen Tetley, Angelin Preljočaj, Fredy Franzutti und Romeo Castellucci. Sie alle haben den Sacre nach ihren eigenen Vorstellungen und Visionen modernisiert und seinen universellen Themen wie Wiedergeburt und Opfer, Liebe und Tod, Fruchtbarkeit und der Kreis des Lebens neue Werte hinzugefügt.
Diesen Sommer haben wir die wunderbare Gelegenheit, einen ganz neuen Sacre zu entdecken, nämlich die Darbietung von Dewey Dell für fünf Darsteller*innen – eine Koproduktion des Festivals im Rahmen des Projekts RING. Das Kollektiv Dewey Dell, 2006 von Teodora Castellucci, Agata Castellucci, Vito Matera und dem Musiker Demetrio Castellucci zwischen Cesena und Berlin gegründet – das somit drei Kinder des Regisseurs Romeo Castellucci, Gründer der Societas Raffaello Sanzio, zu seinen Mitgliedern zählt – präsentiert seinen Sacre, in dem sich Tanz und darstellende Kunst mit anderen Kunstformen wie Kino, Literatur, Fotografie und digitalen Kreationen überschneiden und auch andere Welten, wie jene der Tiere und Pflanzen, erforscht werden.
Die Inszenierung von Dewey Dell ist eine ebenso intensive, wie auch sehr persönliche Interpretation des Stücks. Zeitgenössische Visionen und archaische Atmosphären, extravagante Kostüme und die für den Sacre archetypischen Bilder des 20. Jahrhunderts, die universelle Dimension der conditio humana und die Aktualität einer komplexen, sich ständig wandelnden Gegenwart werden miteinander verbunden. So Agata Castellucci von Dewey Dell im Interview:
Worin besteht für Dewey Dell die Aktualität eines Werks wie Le Sacre du Printemps?
Ein entscheidendes Element für die Aktualität eines Werkes ist seine Fähigkeit, die Zeit aufzuheben: Es wird der Zeit entrissen und erscheint immer wieder aktuell, indem es in eine Art Zeitlosigkeit gerät. Obwohl dies ein Merkmal so vieler Werke ist, welche die Trümmer der Geschichte überlebt haben, hat vor allem Le Sacre du Printemps aufgrund des Wirbels mächtiger Bilder, die sein Klang hervorruft, stets eine große Faszination und tiefe Anziehungskraft auf uns Dewey Dell ausgeübt. Aufgrund seiner Dringlichkeit bleibt ein Werk immer lebendig. Auch deshalb haben wir uns für die musikalische Fassung unter der Leitung von Teodor Currentzis entschieden, da wir in seiner Interpretation eine explosive Komponente erkennen, die eine zündende organische Bewegung bedingt.
Kannst du uns einen kleinen Vorgeschmack auf das Stück geben, das die Zuschauer*innen im Theater erwartet?
In jeder Metamorphose und tiefgreifenden Veränderung des menschlichen Lebens erscheinen Leben und Tod als eine Einheit, egal ob Übergangsritual oder innere Revolution. Im Tier- und Pflanzenreich ist diese Koexistenz von Leben und Tod sogar noch buchstäblicher: Der Tod ist oft Teil eines Befruchtungsprozesses und das Leben wimmelt und tanzt vor und auf den verwesenden Kadavern. Vor allem bei Insekten, Samen und Schimmelpilzen ist der Tod eine willkommene Erscheinung, er ist eine Einladung zum Leben. Dewey Dells Interpretation dreht sich um die Idee, die tellurische Kraft des Sacre in die Natur zurückzubringen. Die ursprüngliche Erzählung des Werks, die von einem alten heidnischen Ritus handelt, bei dem ein Menschenleben für die Fruchtbarkeit des Bodens geopfert wird, findet zahlreiche Parallelen in der Natur: eine Blume, die ihren Pollen spendet, ein Pilz, der seine Sporen verbreitet, oder aber ein verwesender Kadaver. Was bisher eine kulturelle Leseart des Stücks war, wird hier zu einer natürlichen.
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